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Reisegeschichte: Dem Tango auf der Spur Er ist so sinnlich! Seine Umarmung ein Versprechen: Tango. Verrucht und elegant. Charmante Herzensbrecher und schöne Frauen, die in ihren Armen dahin schmelzen. Tango tanzen! Wo, wenn nicht in seinem Geburtsort: Buenos Aires, der Tango-Hauptstadt. Unter sommerblauem, südamerikanischem Himmel rast der Taxifahrer in seinem klappernden schwarz-gelben Gefährt die breite Avenida entlang, vor ihm, neben ihm, hinter ihm in ähnlichem Tempo ein Schwarm Taxi-Kollegen. In halsbrecherischem Tempo geht es vorbei an verspiegelten Fassaden der Bürohochhäuser und an verschnörkelten Jugendstilbauten durch die argentinische 14-Millionen-Metropole, einer brisanten Mischung aus New York, Paris und Bukarest. „Tango“, stellt der Taxifahrer fest, wird langsamer und deutet durchs Fenster auf ein schwarz-rotes Werbebanner. Es zeigt ein Frauenbein samt rotem Stöckelschuh, darüber steht: „Tanguera – El musical argentino“. Tango? Eine Cena-Show, rät der Portier des Hotels, gutes Essen und eine Tango-Vorführung zwischen den Gängen. Über ein Dutzend dieser Cena-Shows gibt es an einem normalen Freitag in Buenos Aires. Und es werden mehr, seit die Argentinier den Tango als neue Geldquelle entdeckt haben. „El Viejo Almacén“, sagt der Portier verschwörerisch, „im alten Tango-Viertel San Telmo ist eine der ältesten und bekanntesten dieser Art“. „Tango?“, fragt die Blond gefärbte Dame von der Touristeninformation in der City geübt. Nach dem Wirtschaftscrash vor drei Jahren, als der argentinische Peso zwei Drittel seines Wertes verlor, ist sie zu einer viel konsultierten Anlaufstelle geworden. Sie drückt dem Besucher eine Art Stadtmagazin mit dem Namen ‚El Tangauta’ in die Hand. Der Tangointeressent sieht beim Durchblättern sofort: Das hier sind die Gelben Seiten für das Tango tanzende Buenos Aires. Blatt um Blatt Anzeigen, Adressen, Telefonnummern für Tanzsäle und Tanzschuhe, Unterkunft und Unterricht. Die „Escuela Argentina de Tango“ etwa wirbt für Ausbildung in einer professionellen Tango-Laufbahn und für Stunden für Anfänger. Genau das Richtige also und nur ein paar hundert Meter von hier die Fußgängerstraße Florida hoch. Die Florida besteht vornehmlich aus Banken und Kaufhäusern - wie jede Fußgängerzone der Welt. Doch in der Hauptstadt des Tango sitzt hier ein alter Mann, der mit geschlossenen Augen aus seinem ächzenden Bandoneon den tangotypischen Zweiviertel-Takt herausholt, die CD-Läden beschallen vorbeischlendernde Passanten mit Tango, von den Postkartenständern der Kioske lächelt breit Nationalmythos und Tangosänger Carlos Gardel herunter, und an der nächsten Ecke wirft sich zum Tango aus dem Ghettoblaster ein Pärchen in Pose - sie schaut zu seinem Borsalino hoch, er zu ihren Netzstrümpfen herunter. Gute Vorbereitung für die ersten Tango-Schritte in dem kleinen Ballettsaal, der sich im dritten Stock einer Einkaufspassage versteckt. „Beine strecken!“, ruft die Lehrerin, „Füße zusammen, schnelle Drehung! Den Rücken locker lassen!“ Gehen, vorwärts, rückwärts, den lang gestreckten Ballett-Saal auf und ab, und die Haltung immer schön im Spiegel überprüfen. Ziemlich anstrengend. Der Schweiß rinnt. So viel zur Sinnlichkeit. „Der Oberkörper der Frau gehört ganz dem Mann“, sagt die Lehrerin, „angegossen wie ein zweites Hemd. Was Hüfte abwärts passiert, ist ihre Sache“. So viel zur Umarmung. Nicht umsonst hat irgendjemand einmal behauptet, der Tango sei ein Versprechen, das nie eingelöst würde. „Du willst also zum Salón Canning“, stellt der Taxifahrer fest, während er durch das nächtliche Buenos Aires mit seinen erleuchteten Restaurants rast. „Da habe ich 20 Jahre lang getanzt. Jeden Sonntag. Jetzt gehe ich ins ‚Lo de Celia’. Da sind gute Tänzer!“ Er schaut in den Rückspiegel und zwinkert. Mitternacht. Aus den Lautsprechern über dem Parkett seufzen die Streicher. Auf der Tanzfläche drangvolle Enge wie in der U-Bahn zur Hauptverkehrszeit. Die Bar, das sieht man gleich, scheint hier der wichtigste Ort zu sein: Ein Umschlagplatz für Informationen, ein Eckchen für Flirts, ein Beobachtungsposten fürs Parkett: Dort schmiegt sich gerade eine rothaarige Schönheit vertrauensvoll an einen pockennarbigen Mann in Bluejeans und ein 70-Jähriger in dunklem Anzug führt eine japanische Touristin sicheren Schrittes durchs Gewühl. „Die Umarmung in einem Tango“, so sinniert an der Bar gelehnt ein schüchtern wirkender Mann, „rettet uns vor der Angst, die wir überall auf der Welt fühlen“. Er muss es wissen, er beschäftigt sich schon lange professionell mit Politik und Tango: Es ist Omar Viola, Präsident der Milonga-Organisatoren. Der Adrenalinspiegel steigt, als der DJ mit einem Song der Rolling Stones die Tanzfläche leer fegt und die eben noch eng umschlungenen Paare trennt. Die Pausenmusik. Jetzt werden die Karten neu gemischt, wie immer nach vier Tangos. Eine kleine Blonde schaut intensiv in Richtung eines Latin-Lovers mit Clark-Gable-Bart, als wolle sie ihn hypnotisieren. Gleichzeitig kreuzen hundert weitere Blicken auf der Suche nach einem Tanzpartner unruhig den Raum. Ein Blinzeln, ein Nicken, die nächste Runde beginnt. Und haste nicht gesehen, ist der Supertänzer nicht mehr an seinem Platz, die Blonde schaut enttäuscht hinterher und die schöne Rothaarige liegt schon wieder einem anderen Mann im Arm. Vor der Angst sitzen zu bleiben, rettet manchmal nur die Flucht in die nächste Milonga. Das ‚Lo de Celia’ liegt am anderen Ende der Stadt. Hier sitzen die Frauen und Männer wie früher fein säuberlich getrennt. Von der anderen Seite des Parketts zwinkert mir jemand zu. Der erste Tango in Buenos Aires. „Schön, dass die Touristen den Tango am Leben erhalten“, hatte der Taxifahrer auf der Herfahrt gesagt. Demnächst, so behauptete er, würde er auch ein paar Schritte wagen. Er weiß noch nicht, dass zuerst die Umarmung kommt. Erschienen in der Financial Times Deutschland |