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Psychologie: Kleine Petze, süßer Fratz

Der Motor brummt in der Frühlingssonne. Meine große Schwester und ich flitzen zum Auto. Wer als Erste da ist, darf vorne sitzen. Heute schaff ich es – meine Startposition ist besser als ihre, und das scheint meine kleineren Beine wett zu machen und die fünf Jahre, die ich jünger bin. Kurz vorm Ziel schreit sie von hinten: „Vornesitzer! Vornesitzer!“ Ich war platt. Plötzlich durfte also vorne sitzen, wer am lautesten seinen Anspruch geltend macht. Nicht eine Sekunde kam es mir in den Sinn die Gültigkeit ihrer frisch erfundenen Regel anzuzweifeln. Ohne den winzigsten Widerspruch setzte ich mich nach hinten.

Die Kindheit kleiner Schwestern besteht aus einer schier endlosen Reihe solcher Erlebnisse – jedes Nesthäkchen wird das bestätigen. Wir Jüngsten haben überhaupt so einiges gemein: Wir werden nie erwachsen. Jedenfalls nicht in den Augen der übrigen Familie. Vermuten wir. Und in mancher Hinsicht stimmt das auch. Kleine Schwestern bleiben immer das, was sie von Geburt an sind: kleine Schwestern eben.

Auch wenn der Altersunterschied zu den anderen Geschwistern bei der einen größer und bei der anderen kleiner ist, sie mal zahlreicher, mal weniger zahlreich, Mädchen oder Jungen sind. Sie werden immer älter sein und wissen lange, lange Kindheitszeit viel mehr als wir. Dafür gibt es bei uns nie einen Nachfolger, der uns auf die Fersen tritt und den Rang streitig macht. All das hat Konsequenzen für unser Leben als Erwachsene. Da sind sich die Geschwisterforscher einig.

Schon 1918 hat sich der Psychoanalytiker Alfred Adler damit beschäftigt, wie sich die Geschwisterfolge auf die spätere Persönlichkeit auswirkt. Er kam zu dem Schluss, dass wir Jüngsten Autoritäten nicht so bereitwillig anerkennen wie unsere Geschwister, dass wir risikobereiter, rebellischer und abenteuerlustiger sind. Hört sich gut an, nicht? Das sind wir!

Abenteuerlustig also. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass wir Kleinen immer als Erste ins Bett mussten, und zwar gerade dann, wenn es am allerspannendsten wurde. Man könnte es so zusammenfassen: Wir kleinen Schwestern haben ein in der Kindheit erworbenes Abenteuerdefizit, das wir als Erwachsene ausgleichen wollen. Denn wer im Sommer abends um halb acht bei heruntergelassenen Jalousien im Schlafzimmer stundenlang wach liegt und hört, wie die Großen sich draußen mit viel Gelächter die Zeit vertreiben, bei dem hinterlässt das Spuren. Zumindest bei mir. Ich kann partout nicht ins Bett gehen, bevor nicht alle anderen schlafen – auch wenn ich hundemüde sein sollte. Immer in der Angst, irgendetwas zu verpassen. Hin und wieder kurve ich sogar nachts um halb drei mit dem Fahrrad durch Hamburg und höre mir im Hafen die Lebensgeschichte alter Matrosen an oder unterhalte mich mit Straßenmädchen. Mit der Zeit führt das natürlich zu einem immensen Schlafmangel. Aber man erlebt spannende Geschichten, und das ist für uns kleine Schwestern das Wichtigste.

Auch unsere aufmüpfige Natur ist nicht weiter erstaunlich. Der US-Forscher Frank J. Sulloway hat für sein Buch „Der Rebell der Familie“ von 1997 über 6000 Lebensläufe von Menschen aus allen Epochen ausgewertet, um herauszufinden, warum manche innovativer, kreativer und unkonventioneller sind als andere. Und er ist zu dem Schluss gekommen, dass die Geschwisterfolge entscheidend ist: „Im Namen der Revolution“, schreibt Sulloway, „haben sich Spätgeborene wiederholt den altehrwürdigen Grundannahmen ihrer Zeit entgegengestellt. Die kühnen Forscher, die Bilderstürmer und Häretiker kommen aus ihren Reihen.“ Kurz: Unsere älteren Geschwister identifizieren sich mit der Macht und der Autorität – schließlich sind sie ein Teil davon. Und sie tun allerhand, um alles zu bewahren, wie es ist. Wir dagegen stellen irgendwann den Status Quo in Frage, weil uns die Machtverteilung nicht mehr in den Kram passt. Auf die Bestätigung durch Autoritätspersonen wie Lehrer oder Chefs legen wir deshalb nicht sehr viel Wert. Schon eher auf die Bestätigung durch Gleichaltrige.
Doch bei aller Widerspenstigkeit und Rebellion sind wir Nesthäkchen auch Experten, wenn es um Zusammenarbeit geht. Denn darauf sind wir als jüngstes Familienmitglied besonders angewiesen. Wir müssen verhandeln, wenn wir unsere Rechte wahren wollen.

Diesen Weg zwischen Anpassung und Rebellion hat Carolyn Lieberg 2001 in ihrem Buch „Kleine Schwester, Unschuldsengel und Satansbraten“ beschrieben. Es ist das erste, das sich ausschließlich mit uns kleinen Schwestern beschäftigt: dem süßen Nesthäkchen, dem frechen Fratz, der kleinen Petze. Neben unseren Eigenschaften wie abenteuerlustig, rebellisch und kommunikativ findet die Autorin (auch eine kleine Schwester – logisch) noch einige weitere Komplimente für uns: Wir sind wortwitzig und charmant, spontan, herzlich und hartnäckig. Das lesen wir natürlich gerne. Unsere kleinen Schwächen fallen da kaum auf.

Doch Leugnen hilft nicht: Es gibt zwei Klassiker unter den Kleine-Schwestern-Problemen. Zum einen ist da unsere Entscheidungsschwäche. Eine gewisse Unfähigkeit kann ich in dieser Hinsicht nicht bestreiten. Nicht so sehr, was meine Zukunftsplanung angeht oder andere weitreichende Beschlüsse. Aber zwischen der Spinatpizza und dem gebratenen Fisch zu wählen, zwischen den orangenen Kapuzen-Shirt und dem grauen Jackett – das verlangt Höchstleistungen von mir. Manchmal hätte ich gerne einen Entscheider, der das für mich regelt – wie in meiner Kindheit. Zum zweiten stellt schon der alte Alfred Adler einen Mangel an Selbstvertrauen bei uns fest. Eigentlich logisch, wenn man bedenkt, dass unsere frühesten Erfahrungen sich darauf stützen, dass wir weniger wissen, als alle anderen Familienmitglieder und dass wir langsamer sind als sie. Eben noch viel zu klein für alles.

Deshalb versuchen kleine Schwestern möglichst viel Wissen zu sammeln. Bei dieser Aufholjagd werden wir ziemlich hartnäckig, schließlich müssen wir immer wieder Rückschläge hinnehmen. Kaum haben wir gelernt, dass wir „Vornesitzer“ schreien müssen, um den begehrten Platz im Auto zu bekommen, kontert die große Schwester mit einer neuen Taktik und sagt herablassend: „Vorne sitzen? Ist doch doof!“ Das soll einer begreifen.

Da bleibt keine Chance, den Erfolg zu genießen. Carolyn Lieberg zieht daraus folgenden Schluss: „Ich glaube, dass kleine Schwestern überdurchschnittlich viel Geld ausgeben für Zeitschriften, Bücher und Videos, die uns helfen sollen, die Welt zu verstehen.“ Ich finde, das ist eine der besten Erklärungen dafür, dass mein Bücherregal vorgestern zusammengebrochen ist. Vom Baustil-Lexikon bis zur Anleitung fürs eigene Foto-Labor ist so ziemlich jeder Lebensbereich dort vertreten. Im wilden Entschluss, alles zu wissen und alles zu können. Ein für alle Mal aufzuholen. Besser noch: zu überholen.

Und irgendwann kommt dann im Leben einer jeden kleinen Schwester einmal der Tag, an dem sie feststellt: Huch, die anderen wissen gar nicht mehr als ich. Ich bin die Expertin hier. Dann hocken wir leicht erstaunt am Ziel und fragen uns im Stillen: So leicht? Das war jetzt alles? Und warten darauf, dass jemand von hinten kommt und „Vornesitzer“ ruft. Das Überraschendste ist dann: Nichts passiert. Ganz unbemerkt sind wir kleinen Schwestern doch noch groß geworden.

Erschienen in der Maxi