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Reportage: Moin-Moin Vietnam Als Phuong eines Morgens die Haustür öffnet, sieht sie eine Wand. Weiß und eisig. Sie läuft zum Fenster. Auch dort: kein Entkommen. Die Wand ist überall. Phuong nimmt ihren dreijährigen Sohn Hoan Vu in die Arme und wartet in diesem Gefängnis. Stunde um Stunde. Schließlich werden Mutter und Sohn befreit aus dem eingeschneiten Haus an der ostfriesischen Nordseeküste, und Phuong hat nur einen Gedanken: „Ich will zurück.“ Zurück in das Land, aus dem sie gerade geflohen war. Zurück nach Vietnam. „Lieber die Kommunisten“, denkt sie, „als dieser Schnee“. 22 Jahre später sitzt Nguyen Thi Phuong auf ihrer Wohnzimmer-Couch vor dem dunkelroten Lacktisch mit eingelegtem Perlmuttdrachen und hält sich vor Lachen den Bauch, als sie diese Geschichte erzählt. Ständig sei sie damals ausgerutscht auf dem Eis, ständig in den Schnee gefallen. Die Augen blitzen schelmisch in ihrem feingeschnittenen Gesicht. „Das Klima hier“, ruft die zierliche Frau und kuschelt sich in ihre rote Fleece-Weste, „war eine Katastrophe für mich!“ Dabei hat Nguyen Thi Phuong weitaus größere Katastrophen in ihrem Leben überstanden als das Wetter in Ostfriesland. Wenn die 51-Jährige von ihrem Schicksal erzählt, könnte die Geschichte auch aus dem Drehbuch eines neuen Spielberg-Films stammen: Ihr quirliges Leben als Bankerin in Saigon, die Machtübernahme der Kommunisten in Südvietnam 1975, die Flucht. „Ich habe alles verkauft Moped, Schmuck, einfach alles zu Geld gemacht, um die Plätze auf dem Boot zu bezahlen“, sagt sie und schenkt Kaffee nach. Vier Plätze. Für sich, für ihren Mann, den dreijährigen Hoan Vu und seine ältere Schwester. Damals weiß sie noch nicht, dass nur ihr und ihrem Sohn die Flucht gelingen wird. 3.100 Boat-People aus Vietnam, sind im Laufe der Zeit im ostfriesischen Nordseestädtchen Norden gestrandet. Wie Nguyen Thi Phuong. Die meisten sind irgendwann weiter gezogen zu Verwandten in anderen Städten, aber viele sind hier geblieben. Hier, wo das Land flach ist und der Himmel meist tief über den fetten Wiesen hängt, wo die Wege auf dem grünen Deich schnurgerade sind und die Flaggenleinen an den Mast im Takt zum Möwengeschrei schlagen, hier am äußersten Zipfel Ostfrieslands hat sich eine 300-köpfige vietnamesische Gemeinde etabliert. Und weil sie zurückhaltend sind und höflich, weil die Eltern fleißig sind und ihre Kinder zu Respekt vor älteren Menschen erziehen, geht das Leben weiter seinen geruhsamen Gang zwischen Ebbe und Flut, zwischen Regenströmen im Winter und Touristenströmen im Sommer. Denn im Grunde ziehen die Ostfriesen und die Vietnamesen an einem Strang: Nichts unterscheidet die rotgeklinkerte „Pension Frisia“, von der rotgeklinkerten „Pension Friesenklause“ oder die „Pension am Deich“ vom „Ferienhaus Silbermöwe“, - außer dass ein Haus einem Vietnamesen gehört, das andere einem Ostfriesen. Irgendwelche Probleme? „Neee“, sagt der blonde Taxifahrer bedächtig, „komm’ wir gut zurecht, mit den Menschen“. Er hält vor zwei verbundenen Rotklinker-Häusern. „Haus am Nordmeer“ steht auf dem einen, „Kiosk Mai“ auf dem anderen. „Sind ja nette Leute und fleißig“, sagt er und zeigt durch die Windschutzscheibe, „diese Familie hier hat alles selber gebaut“. In der Tür zwischen Pension und Kiosk steht in Jeans und Jeanshemd ein Mann mit kurzem schwarzem Haar, grau durchsetzt. Nguyen Van Han lächelt und bittet in den Frühstücksraum, der zusammen mit dem Kiosk beinahe das gesamte Erdgeschoss seines Wohnhauses einnimmt. Hier sitzen morgens im Sommer die Urlauber bei Kaffee und Schrippen mit Marmelade vorm ostfriesischen Kamin mit den blauweißen Kacheln. An Vietnam erinnern nur vier Holztäfelchen an der Wand mit eingelegten Perlmuttzeichnungen von Reispflanzerinnen und asiatischen Landschaften. Und die vietnamesischen CDs, die neben dem kleinen Stereoturm und dem Mikrophon liegen. Außerhalb der Saison, wenn so wenig Besucher da sind wie jetzt, veranstaltet Van Han häufig Karaoke-Abende mit den anderen Gestrandeten. Heimweh? Van Han nickt. Doch. Besonders am Anfang. Alles sei anders hier. Die Kinder anders erzogen. Er zögert ein wenig, sucht nach einem Wort und schaut zu seiner halbwüchsigen Tochter Huong. Nicht so streng, sagt er dann lächelnd. Und man kann nicht recht einschätzen, was sich hinter dem immer gleichen freundlichen Gesichtsausdruck verbirgt. Darin unterscheidet sich Van Han nicht von seinen Landsleuten. Die Vietnamesen bemühen sich möglichst unauffällig und zurückgezogen zu leben. Und seitdem Din van Hai, der Besitzer der Pension Frisia einige hundert Meter weiter, in einer Zeitung einmal als Millionär bezeichnet worden ist, möchte der mit Journalisten nicht mehr sprechen. Aus Angst vor Neidern. Auch Van Han ist wegen des Gesprächs ein wenig beunruhigt. Aber es sei ihm wichtig, sich jetzt einmal über die Zeitung bei allen Menschen zu bedanken, sagt er und drückt die Hand der Besucherin fest und lang. „Alleine hätte wir es nie geschafft, das hier aufzubauen“, sagt er, während er weiße Kluntjes auf den Tisch stellt und Ostfriesen-Tee einschenkt. Vor zwei Jahren war Van Han nach 20 Jahren das erste Mal wieder in Vietnam. Zwanzig Jahre, nachdem er vom Rettungsschiff Cap Anamur aus dem südchinesischen Meer gefischt wurde. Die ganze Familie hat gemeinsam seine alte Heimat besucht. „Cool war das“, sagt seine 16-jährige Tochter und ihre Wangen färben sich leicht rosa, „Vietnam ist ein tolles Land. Aber einfach fremd. Mit der deutschen Kultur komme ich besser klar.“ Ein Leben in Vietnam? Nein, das könne sie sich nicht vorstellen, „das ist so ein spießiges Land.“ Schnell und selbstbewusst kommt die Einschätzung der jungen Frau. Der Vater schaut ein wenig hilflos. Er könne sich schon vorstellen irgendwann zurückzugehen, erklärt Van Han zögernd. In Vietnam wäre er unbestrittenes Familienoberhaupt und würde solch eine Entscheidung alleine fällen. In dem fremden Land ist das nicht so einfach. „Die Kinder sind hier geboren“, sagt er leise, „das hier ist die Heimat für sie. Da ist es schwierig, eine Lösung zu finden.“ Trotz Sehnsucht haben sich die ehemaligen Flüchtlinge im ostfriesischen Norden eingerichtet zwischen Ostfriesentee und südostasiatischem Gebäck. Hier kennt jeder kennt jeden. Jeder weiß, was der andere für Pläne hat, wie es dessen Oma geht und was die Kinder machen. Man läuft sich ständig über den Weg: Beim Arzt, der sich auf fernöstliche Heilkunst spezialisiert hat, beim vienamesisch-katholischen Gottesdienst oder bei einem der vielen vietnamesischen Kioske, wo es nicht nur die Ostfriesen-Zeitung gibt und Snickers, sondern auch Duftpilze und Glasnudeln. Man leiht sich gegenseitig stapelweise die ostasiatischen Videokassetten mit 15-stündigen Sagas, die „Der Weg zum Glück“ heißen oder „In die weite Welt“. Man bleibt unter sich. Die Verbindungen zu anderen vietnamesischen Gemeinden in Hannover, Osnabrück oder in die USA sind enger als zum deutschen Pensionswirt nebenan. Unter Familie versteht hier niemand Blutsverwandtschaft: Die Alten haben das Sagen und „Tante Nummer eins“ heißt so, weil sie den größten Einfluss hat. Durch Hochzeiten werden die Verbindungen der Clans weiter ausgebaut. Man hilft sich. Man gibt Geld, packt vor Ort mit an und unterstützt sich seelisch. Weil man aus dem gleichen Land kommt, die gleiche Sprache spricht, die Traditionen kennt, weil sich die Schicksale ähneln und die Erinnerung. Die meisten haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt bei ihrer Flucht. Zwischen 1975 und 1995 versuchten beinahe eine Millionen Vietnamesen auf klapprigen Fischkuttern aus ihrer Heimat zu fliehen: Vor dem Hunger und vor den Umerziehungslagern des kommunistischen Regimes, das alle Bewohner des Südens für potenzielle Verräter hielt. Sie trieben wie Phuong und ihr dreijähriger Sohn, so wie Van Han und seine Freundin tagelang auf dem südchinesischen Meer, auf Booten, die, völlig überladen, fast untergehen. Sie wrangen vor Durst den Regen aus ihren T-Shirts, schauten hilflos zu wie andere Boat-People vor ihren Augen ertranken und sahen ihre Leichen dann auf dem Wasser schwimmen. Sie hofften auf ein Schiff, das sie retten würde. Und sie fürchteten doch jedes Schiff, das am Horizont auftauchte. Weil es Russen sein konnten, die sie zurückbrächten oder schlimmer noch, Thai-Piraten, die sie ausraubten, vergewaltigten, massakrierten. Und sie fürchteten sich zu Recht: Zehn Prozent der Boat-People, so wird geschätzt, kam niemals irgendwo an. Thi Phuong und Van Han aber hatten Glück. Sie wurden gerettet und als Kontingentflüchtlinge in Deutschland aufgenommen. Anders als Asylsuchende erhielten sie sofortiges Bleiberecht und wurden umfassend betreut. Ein eigens geschaffenes Gesetz regelte 1980 diese problemlose Aufnahme von bestimmten Kontingenten an Boat-People. Nicht zuletzt half man damit Antikommunisten, was zu Zeiten der beiden großen Machtblöcke politisch vorteilhaft erschien. Die Unterstützung in der Bevölkerung war enorm. Viele der Älteren erinnerten sich an den zweiten Weltkrieg oder gar an ihre eigene Flucht vor den Russen. „Oma Brakel hat uns hier in Norden viel geholfen“, sagt die 23-jährige Min Hai, die 1986 mit Tante und Onkel auf einem alten Kahn aus Südvietnam geflohen ist. „Sie hat meine Schularbeiten korrigiert und uns bei Behördenfragen unterstützt“, erzählt die junge Vietnamesin. Sie streicht das lange schwarze Haar zurück und sagt mit weicher Stimme: „Oma Brakel hat das mit so viel Herz gemacht!“ Auch Frau Phuong denkt häufig zurück an die alten Patienten, die ihr als Arzthelferin immer wieder Geld zusteckten, an die Schwestern vom Roten Kreuz, die ihr so viel schenkten und an Roman Siewert der Leiter des kirchlichen Erholungs-Zentrums „Nazareth“. Diese christliche Einrichtung hat ein knappes Fünftel der 17 000 Flüchtlinge aus Südvietnam auf das neue Leben vorbereitet - mit Deutschunterricht und Landeskunde, mit Umschulungen und praktischen Stunden darin, was eine Behörde ist und was die Post. Die friedhofsähnliche Ruhe, die penibel sauberen Bürgersteige, die Pünktlichkeit - alles ist anders als in Vietnam. Alles ist merkwürdig und fremd in der windigen Heimat Dornkaats und Onno Behrends schwarzem Tee, hier „am Ende der Welt“, wie Herr Phuc vom Kirchenzentrum Nazareth leicht lächelnd sagt. Herr Phuc lehnt mit verschränkten Armen im geblümten Ikea-Sofa. Auf dem großen Kieferntisch mit der beige-blauen Wachstuchdecke stehen noch Marmelade und Tee vom Frühstück mit den minderjährigen Flüchtlingen ohne Verwandte, die der Vietnamese im alten Bauernhaus betreut. Der Großteil kommt aus seiner Heimat. „Die bekommen jetzt nur noch eine Duldung“, sagt er, „sie können ihre Zukunft nicht planen. Das macht die Integration so schwierig. Viel schwieriger als bei den Boat-People damals.“ Herr Phuc kennt alle Vietnamesen, die im Nordseestädtchen Norden gestrandet sind. Von Anfang an, seit 1978, hat der Vietnamese für die Flüchtlinge übersetzt und sie betreut. Wenn er seine Arbeit für das Haus Nazareth beschreibt, sagt er: „Ich bin Brückenbauer.“ Herr Phuc musste schon viele Brücken bauen zwischen den Kulturen. Er hat kleine Auseinandersetzungen geschlichtet, zur Frage, ob man Äpfel pflücken darf, wenn sie noch grün sind und allerhand andere Missverständnisse geklärt. Einen Vietnamesen etwa treffen jegliche Beleidigungen, die ein Deutscher achselzuckend wegsteckt, tief. Pünktlichkeit und Wahrheit dagegen spielen in dessen Kultur eine untergeordnete Rolle. Trotzdem: Mitten in Ostfriesland mit seinen bodenständigen Bewohnern klappt die Verständigung der beiden Völker besonders gut. Denn die bedächtigen Ostfriesen warten erst mal ab und trinken Tee und die Vietnamesen drängen sich nicht auf. „Die Menschen hier sind sehr offen“, erklärt Herr Phuc und blinzelt durch seine Goldrandbrille, „von Anfang an haben die Nordener positiv reagiert auf ihre neuen Nachbarn.“ Und nicht zuletzt habe auch der Staat einiges beigetragen. „Die Flüchtlinge mussten nur zugreifen und sich weiterentwickeln“, sagt Herr Phuc. Und dann gibt es da noch die Nordener Firma Bandstahl AG. Herr Van Han von der Pension Nordmeer arbeitet seit 16 Jahren bei der Bandstahl AG so wie viele seiner Landsleute auch - Vietnamesen stellen 15 Prozent der Arbeitnehmer dort. In Zusammenarbeit mit dem Haus Nazareth hat der Betrieb Umschulungen für sie angeboten. Die Erfahrungen seien gut, sagt der Betriebsleiter Gerhard Trauernicht: Die vietnamesischen Arbeitnehmer seien fleißig und selten krank. Aber er gibt auch zu: „Das ist eine Insellösung“. Wegen der Sprache, mit der die älteren Vietnamesen trotz Deutschkurse große Schwierigkeiten haben, setze er sie hauptsächlich gemeinsam in der Produktion ein. Van Han und seine vietnamesischen Kollegen sind froh drum. Sie bleiben gerne unter sich. Privat, sagt Gerhard Trauernicht, habe er noch keinen Vietnamesen kennen gelernt. Frau Phuong ist eine der wenigen, die mehr Kontakt zu Deutschen hat. Ihr kleiner Sohn Hoan Vu ist inzwischen 25 Jahre alt - und hat eine deutsche Freundin. Nein, meint sie, Schwierigkeiten habe sie damit nicht. „Solange sie keine Probleme damit hat, dass ich vietnamesisch koche“, sagt Frau Phuong laut lachend. Sie spricht schnell und die Ks und Ps knallen zackig aus ihrem Mund. „Die meisten älteren Vietnamesen haben Angst, dass sie sich mit deutschen Schwiegerkindern und mit den zukünftigen Enkeln nicht unterhalten können“, sagt sie. Frau Phuong dagegen spricht fließend deutsch. Als Bankerin in Saigon musste sie schon damals Englisch beherrschen, das machte das Deutschlernen einfacher für sie. Vielleicht lädt sie auch deshalb gerne ihre ostfriesischen Nachbarinnen zum Kaffeetrinken ein und engagiert sich mit ihnen beim Arbeitskreis für den Adventsbazar. Zur Geburt ihres dritten Kindes kamen die Nachbarn mit dem traditionellen Glas Sinbohntjesopp, um ihr Glück zu wünschen. Rosinenwein, nennt Frau Phuong das Getränk und wenn sie jemals nach Vietnam zurück müsste, sagt Frau Phuong, dann würde sie etwas von diesem Rosinenwein mitnehmen. Deutschland, das ist in den 22 Jahren ihre Heimat geworden. Auch wenn alles schwierig war, ohne Mann und ohne Tochter. Denn die hatten es damals auf der Flucht nicht mehr bis zum Boot geschafft. Eine schier endlose Zeit hat Phuong auf sie in Deutschland, in Norden, gewartet und sämtliche Heiratsanträge der Ostfriesen abgelehnt. „Die Deutschen haben das nicht verstanden“, erzählt sie und fragt: „Doch wie kann ich mich scheiden lassen, wenn mein Mann keinen Fehler begangen hat?“ Nach sechs Jahren des Wartens konnten ihr Mann und ihre Tochter endlich nachreisen. „Ich habe meinen 50. Geburtstag in Norden erlebt, und meine Silberhochzeit. Ich kann mir nicht mehr vorstellen zurück zu gehen. Auch das Klima in Vietnam vertrage ich nicht mehr. Mein Sohn und ich, wir lieben jetzt den Schnee“, sagt sie und lacht wieder laut in Erinnerung an ihren ersten Winter hier. Hoan Vu übrigens, berichtet sie stolz, ist im vergangenen Jahr beim Bund mit einer Siegermedaille ausgezeichnet worden - fürs Skilaufen. Reportage für das Magazin der Frankfurter Rundschau |